"Rebell der Alten"
Dazu eine Zusammenfassung von Gabriele Rettner-Halder (themen-tv):
Dauernd klingelt das Telefon. Unglaubliche Geschichten aus Alten- und Pflegeheimen hört er: z.B. von Patienten, die sich wund gelegen haben, von alten Menschen, die zu wenig trinken und langsam austrocknen, nicht an die frische Luft kommen oder ans Bett gefesselt, zu deutsch fixiert werden. Was Du nicht willst, das man Dir tu', das füg' auch keinem anderen zu. Das ist das Motto, unter dem Claus Fussek seit Jahren gegen Missstände in Altenheimen kämpft. Wenn dem Menschen die Würde genommen wird, hört er auf zu leben, sagt er. Was offiziell verharmlosend als Pflegemangel deklariert wird, ist seiner Meinung nach eigentlich Folter. Er nennt die Wirklichkeit beim Namen und ist inzwischen der Rebell der Alten geworden. Sein Vorwurf: An schlechter Pflege, zum Beispiel an einem Druckgeschwür und am Wundliegen, ist mehr zu verdienen als an der Vermeidung. Gute Pflege ist unter dem Strich fürs Gesundheitssystem billiger, sagt er. Knapp 100 Euro kostet zum Beispiel eine Spezialhose, die in einem Pflegeheim die Anzahl der Oberschenkelhalsbrüche um 90 Prozent reduzierte. Die Krankenkasse zahlt diese billige und wirkungsvolle Vorbeugung leider nicht. Dafür fließt das Geld, wenn der Sturz passiert ist: 500 Euro kostet der Transport ins Krankenhaus und Tausende die Operation und Rehabilitation. Dann fließt auch das Geld von der Pflegekasse, denn meist werden die alten Menschen danach zum entgültigen Pflegefall. Wenn schon der menschliche Aspekt keine Rolle spielt, könnte doch wenigstens die wirtschaftliche Vernunft greifen, sagt Fussek. Mit seiner oft polemisch und sarkastisch geäußerten Kritik und seinen Forderungen ist Claus Fussek für die Angegriffenen ein rotes Tuch. Für viele Heimbewohner, Angehörige und auch das Pflegepersonal ist er dagegen zur Anlaufstelle geworden, wenn es um Probleme in der Altenpflege geht. Aus der Kirche ist er inzwischen ausgetreten, weil er nicht verstehen kann, was auch in christlich geführten Heimen passiert. In München hat er einen Pflegestammtisch für Angehörige und Profis eingerichtet. 300 Besucher kommen dazu in der Regel in den Löwenbräukeller. Die bayrische Sozialministerin ist dort auch häufig ganz inoffiziell zu Gast, um sich über die Stimmung an der Basis zu informieren. Der Kabarettist Dieter Hildebrandt hat die Schirmherrschaft übernommen. Mittlerweile ist Fussek auch am runden Tisch des Bundesfamilienministeriums und reist durch die Lande, um für die menschliche Normalität in Pflegeheimen zu werben. Der Film von Jo Frühwirth begleitet Claus Fussek in seinem ehrenamtlichen Kampf für menschenwürdigere Altenheime und zeigt auch am Beispiel eines Pflegeheimes für Schwerdemenzkranke auf, dass es oftmals nur einer respektvollen Haltung den alten Menschen gegenüber und ein paar guter Ideen bedarf, um aus einem Pflegeheim ein Zuhause für alte Menschen zu machen.
Seinen in der ganzen Republik und darüber hinaus bekannten Namen verdankt Claus Fussek der Tatsache, dass er viele Jahre hindurch der Einzige war, der Missstände in der Pflege öffentlich beim Namen nannte. Als das Wort Pflegenotstand noch verpönt war, prangerte der gelernte Sozialpädagoge bereits an, wie Menschen ihrer Würde beraubt werden, wie sie wehrlos einem System ausgesetzt sind, das Vorschriften und Dienstpläne in den Vordergrund stellt.
Immer dann, wenn keiner so genau hinschaut, weil es unbequem ist, schlägt Fusseks Stunde. Seit 20 Jahren macht er das schon und die vielen Reaktionen beweisen ihm, wie wichtig dieser Job ist. „Ich habe noch nie eine Gegendarstellung bekommen“, bemerkt der 52-jährige zweifache Familienvater. Stolz ist er darauf nicht. Denn: „Ich hätte so gern Unrecht“. Anstelle von Protestbriefen bekommt der couragierte Einzelkämpfer zuhauf Hinweise über Zustände in Pflege- und auch in Altenheimen, die ihm bisweilen den Schlaf rauben. Sein kleines Büro ist zu einer Aktendeponie geworden. Allein in den letzten fünf Jahren schlug sich sein Engagement in zirka 40 000 eingegangenen Briefen und Faxen nieder. Darunter unendlich viele Dramen, in denen Ignoranz, Gleichgültigkeit und „der blanke Hass“ abgebildet sind.
Fussek spricht von „Mord auf Raten“. Den Umgang mit hilfsbedürftigen Alten hält er für die „größte Humankatastrophe nach dem Zweiten Weltkrieg“.
Die gesammelten Belege über Zustände in Heimen, die sich bisweilen wie Geschichten aus einem Gruselkabinett lesen, haben Fusseks Kampfgeist eher beflügelt. Der Mann ist Berufsoptimist. Kritiker aus Verbänden und so mancher Vorstandsetage halten ihn für einen Nestbeschmutzer und seine vielen Fans für einen Engel. Inzwischen gründete er einen Pflege-Stammtisch, der „In Würde alt werden“ heißt und für ein selbstbestimmtes Leben eintritt. Als Schirmherr hat Fussek dafür den Kabarettisten Dieter Hildebrandt gewonnen, der auch das nachdenkliche Vorwort in seinem soeben erschienenen Buch schrieb.
Zusammen mit dem Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, Sven Loerzer, appelliert Fussek an alle, mit „dem Kartell des Schweigens“ Schluss zu machen.
Selbst für versierte Fachleute, die noch nicht ganz abgestumpft sind, ist die Lektüre schwere Kost; eine längst überfällige Abrechnung, die nach einer Korrektur der Zustände nur so schreit. „Wir sind von einer Gesellschaft, in der die Missachtung hilfloser alter Menschen systematisch unterbunden wird, leider noch sehr weit entfernt“, resümiert Fussek darin. Sein Ziel ist, dass in jedem Heim die Grundrechte der Menschen eingehalten werden. Neue Studien, neue Erkenntnisse seien nicht vonnöten. Es gehe jetzt darum, diese umzusetzen. „Wir wissen alles“, sagt Fussek mit gebotenem Ernst. „Aber wenn es nicht gelingt, daraus schnellstmöglich Konsequenzen zu ziehen, werden wir bald über Sterbehilfe reden müssen“. Das klingt nach Polemik, aber Fussek hat gelernt, dass nur das scharfe Schwert hilft, sich Gehör zu verschaffen.
Der Pflegeexperte ist schon froh, dass in den gegenwärtigen Diskussionsrunden keiner mehr ernsthaft behauptet, bei den Missständen handle es sich um Einzelfälle. Viele Pflegekräfte sind unter den Absendern der Zuschriften, die er am laufenden Band erhält, verzweifelte Hilferufe und Dankesadressen für Fusseks „Nestbeschmutzereien“.
Manche trauen sich aus Angst vor einem Arbeitsplatzverlust nicht, ihren Namen zu nennen. Eine Altenpflegeschülerin schildert, wie Pflegebedürftige gleichzeitig ihr Essen vorgesetzt und den Topf unter den Hintern geschoben bekommen, wie aus Gründen der Zeitersparnis nachts gewaschen und Druck auf die Pflegebedürftigen ausgeübt wird, sich beim Stuhlgang zu beeilen. „Dann machen sie eben in die Hose“, heißt es dabei in vorwurfsvollem Ton. Die Zuschriften sind eine einzige Anklage, so dass Fussek vor dem Foltervorwurf nicht halt macht. Menschen erhalten nicht ausreichend zu trinken und zu essen, Spaziergänge sind tabu, ab fünf Uhr ist Nachtruhe angesagt, Bettlägerige sterben vorzeitig, weil sie überall wund gelegen waren.
„Was ich in den letzten Jahren erlebt, gesehen, gehört und gerochen habe, lässt mich nicht mehr los“, sagt Fussek. Vor Jahren gründete der quirlige Münchner VIF, einen ambulanten Pflegedienst, den er neben seiner ehrenamtlichen Arbeit leitet. Resignierte Pflegekräfte, ihrer Menschenwürde beraubte Heimbewohner, ignorante Heimleiter und eine ganze Industrie, „die davon lebt, dass nichts passiert“, sind für Fussek alltägliche Erfahrungen.
Sein Telefon klingelt unentwegt, gerade so, als wäre er die einzige Anlaufstelle in der Welt. Wenn er nicht seinen geliebten Fußballclub TSV 1860 hätte, „wo ich nach Herzenslust brüllen kann“, hätte er vielleicht schon einen Herzinfarkt, meint er. Immer wieder fällt ihm beim Erzählen von Fällen aus dem Pflegealltag der simple Satz ein: „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg’ auch keinem and’ren zu“. Fussek hofft, dass sein Kampf nicht sinnlos und dieser Satz nicht in Vergessenheit geraten ist. Gottlob gibt es auch dafür Beispiele. Und Mitstreiter, die wissen, dass fehlendes Geld längst nicht überall die Ursache für den Pflegenotstand ist.