Proteste gegen Stuttgart 21 - Die Spannung steigt
Baustellenbesichtigung
Am Montag, 16.8.10, war um 19 Uhr "Tag der offenen Tür" auf der Baustelle am Nordflügel. Während mehr als 10.000 BürgerInnen auf der 39.Montagsdemo zum Schwabenstreich lärmten, tat sich am Bauzaun ein Loch auf. Dies ermöglichte vielen BürgerInnen eine Baustellenbesichtigung. Gegen 21 Uhr beendete eine fröhliche, musikalisch untermalte Polonaise den Besichtigungstermin (Videos bei YouTube und RegioTV). DerPolizeisprecher Stefan Keilbach nimmt die Aktion zum Anlass, ein offensiveres Vorgehen der Uniformierten anzukündigen:
"Demonstranten haben nun zum zweiten Mal das Grundrecht der Versammlungsfreiheit missbraucht und in dessen Schutz planvoll Straftaten begangen. Wir haben uns bisher im unmittelbaren Demonstrationsbereich sehr zurückgehalten und Abstand gewahrt. Aber unsere Zurückhaltung wird ausgenutzt. Straftaten werden begangen. Aggressionen sind nicht selten. Wir werden offensiver in Aufklärung und Präsenz gehen." (Heilbronner Stimme)
Illegale auf der Baustelle
Am Dienstag berichtete die Süddeutsche Zeitung über Illegale auf der Stuttgart 21-Baustelle. Damit waren nicht die DemonstrantInnen gemeint. Das Hauptzollamt Stuttgart hatte Beschäftigte auf der Baustelle kontrolliert, bei neun von elf angetroffenen Arbeitern bestehe der Verdacht "regelwidriger" Beschäftigungsverhältnisse. Der Vorsitzende des Verkehrsausschusses im Deutschen Bundestag, Winfried Hermann, sieht Rechtsprobleme ganz anderer Art. Im ZDF-Magazin Frontal 21 kündigte er am Dienstagabend an, er werde seine Informationsrechte gegenüber der Bahn beim Bundesverfassungsgericht einklagen. Einblick in die Wirtschaftlichkeitsberechnung der Bahn wurde ihm verweigert, da diese dem "Geschäfts- und Betriebsgeheimnis" unterliege. Herrmann dazu:
"Es ist einfach ein Skandal, dass wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages keine Informationsrechte gegenüber der Bahn haben, gegenüber einem hundertprozentigen Bundesunternehmen. Es ist aberwitzig, dass ein Parlament die Ausgabe von Steuergeldern in Milliardenhöhe nicht kontrollieren kann"
Absperrgitter vor dem Bauzaun
Am Mittwoch hat das Verwaltungsgericht Stuttgart einer einstweiligen Verfügung des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21 stattgegeben. Das Ordnungsamt hatte die S21-KritikerInnen verpflichten wollen, bei Demonstrationen vor dem Bauzaun mit Hamburger Gittern eine zusätzliche Absperrung zu errichten und vor dem Bauzaun alle drei Meter einen Ordner abzustellen. Die Absperrung des Bauzauns übernahm am Mittwochabend dann doch die Polizei. Sie meinte den Bauzaun vor den Besucherinnen des 4.Kulturmittwochs schützen zu müssen. Mit Kultur war an diesem Mittwochabend nicht so viel. Stattdessen wurde über die "Beschädigung" des Bauzauns am Montag diskutiert. Die führenden, in den Medien bekannten Köpfe des Protestes kritisierten durchweg die Aktion. Nur DiskussionsteilnehmerInnen aus dem Publikum verwiesen auf die Vielfalt des Widerstands und freuten sich über die Baustellenbesichtigung. Einig waren sich aber alle, dass Blockadeaktionen vor der Baustellenzufahrt ein legitimes und notwendiges Mittel des Widerstandes seien. Die Gelegenheit dazu sollte schneller kommen als erwartet.
Sitzblockaden und Angriffe auf die Polizei
In der Nacht zum Donnerstag rückte ein Tieflader mit einem großen Abrissbagger an. Die ParkschützerInnen riefen Alarme aus und etwa 1000 BürgerInnen kamen. Einige Hundert setzten sich dem Bagger in den Weg. Die Polizei machte deutlich, dass Widerstand weh tun kann. Wie die Stuttgarter Zeitung berichtete, rechtfertigte der Polizeipressesprecher Petersen Tritte gegen Blockierende genauso wie das Verdrehen von Kopf und Gliedmaßen. Das seien übliche Techniken des unmittelbaren Zwangs. Die Demonstranten sollten wissen, dass das Sichwegtragenlassen wehtun könne; vor allem, wenn sich Demonstranten widersetzten. Obwohl Polizeibrutalität demnach anscheinend zu den üblichen Techniken gehört, wurde noch eine Rechtfertigung gebastelt:
"Bei dem Polizeieinsatz am Mittwoch (18.08.2010) gegen 23.15 Uhr, als der Weg für einen Radbagger in das Baugelände freigemacht und Aktivisten von der Straße weggebracht werden mussten (wir berichteten), wurden zwei Polizeibeamte von S21-Protestierenden angegriffen und verletzt. Ein 27-jähriger Polizeibeamter und ein 30-jähriger Beamter erlitten Prellungen."
Diese Polizeimeldung wurde von der einschlägigen Presse begierig aufgegriffen. Der folgende "Nachtrag" dazu ging unter:
"Wie sich am Donnerstag in den Morgenstunden (19.08.2010) herausgestellt hat, ist bei dem Polizeieinsatz anlässlich der Anfahrt eines Radbaggers auf das Baugelände von Stuttgart 21 am Mittwochabend (18.08.2010) lediglich ein 30 Jahre alter Polizeibeamter bei einem Gerangel an einem Absperrgitter von S21-Gegnern verletzt worden. Sein 27-jähriger Kollege hatte sich während des Einsatzgeschehens ohne fremdes Verschulden an der Hand verletzt." (Polizeipräsidium Stuttgart)
Den Angriff von S21-Protestierenden gab es also nie. Am Donnerstagabend zogen etwa 4.000 Menschen in einer kurzfristig angesetzten Demonstration um den Bahnhof. Die Ausrufung des Tages X war verfrüht, ein außen deutlich sichtbarer Abriss des Nordflügels - das wäre der Tag X - war noch nicht erfolgt. Die Anspannung wächst.
Schweigemarsch und Wahlkampf
Für Freitag war ein Schweigemarsch angekündigt. Weil es das Ordnungsamt so wollte, versammelten sich die S21-GegnerInnen nicht am Bauzaun vor dem Nordflügel des Bahnhofs, sondern etwas abseits in der Lautenschlager Straße. OrdnerInnen wiesen TeilnehmerInnen auch darauf hin, dass sie sich nicht unkenntliche machen dürften und dass das Mitführen von Stöcken nicht erlaubt sei. Der ursprünglichen Aufruf bat noch darum, in schwarzer Kleidung mit schwarzer Kopfbedeckung, mit geschminktem Gesicht und (Wander-)Stab zu erscheinen. Doch auch das erlaubte das Ordnungsamt nicht. Die Ungehorsamen waren in der Minderheit. Doch der schwarze Block beteiligte sich erkennbar (siehe Bild ganz unten). Die Schweige-Demonstration von nahezu 30.000 Menschen beeindruckte auch die umstehenden PassantInnen. Zum gemeinsamen Schwabenstreich wurde es dann wieder richtig laut. Anschließend durften die Ex-Ministerin Künast und ihrer Bundestagskollegin Sabine Leidig von der Linkspartei Wahlkampfreden schwingen. Frau Leidig gelang es immerhin, die Menge zu einem lautstarken "Grube muss weg" zu animieren.
Ziviler Ungehorsam und vorauseilender Gehorsam
Die vergangene Woche zeigte einmal mehr die ganze Breite des Protestes: Ziviler Ungehorsam am Montag und in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, vorauseilender Gehorsam und Wahlkampf am Freitag. Nervosität und Aktivitätsgrad nehmen zu. Die S21-Betreiber geben sich wild entschlossen und drohen mit Gewalt. Innerhalb der Widerstandsbewegung deuten sich interne Spannungen an. Da gibt es die Parteikader, die die Bürgerbewegung für die eigene Partei einspannen. Bei einigen Wortführern herrscht die Vorstellung, die Bewegung kontrollieren und vereinheitlichen zu müssen. Oder sie wollen gar eine gemeinsame politische Identität entwickeln. Das wird kaum gelingen, die Unberechenbaren und Ungehorsamen müssen dann weg. Das käme nicht nur den Spaltungsversuchen der S21-Betreiber entgegen, sondern auch dem sozialen Reinlichkeitsbedürfnis einiger staatsgläubiger BürgerInnen, die unabhängige Aktionen für die Repressalien der Polizei verantwortlich machen. Sie haben noch nicht erlebt, wie Polizisten DemonstrantInnen verfolgen, nur weil sie angeblich vermummt sind oder ein zu langes Transparent tragen.
Andere betonen die Bedeutung der Basisinitiativen und des Engagements einer jeden. Ein Teilnehmer der Mittwochabend-Diskussion um die Öffnung des Bauzauns betonte: "Wir sind autonom agierende Menschen". Diese könnten ihre Aktionen nur durchführen, wenn sie diese auch selbständig planen.
"Das trägt das Risiko in sich, dass die Versammlungsleitung in gewisser Weise verarscht wird. Diese Spannung müssen wir aushalten."
Bisher gelingt das. Der Aktionskonsens grenzt nicht nur Gewalt aus, er schließt auch alle gewaltfreien autonomen Aktionen ein. Eine zentrale Strategie- und Genehmigungsbehörde für Protest und Widerstand ist nicht vorgesehen.
Die Erfolgsperspektive für den Widerstand formulierte Dieter Hoffmann von der Gewerkschaft der Polizei. Nach der Bauplatzbesichtigung vom Montag sagte er im SWR:
„Das gibt ein Problem, wir können das personell nicht mehr schultern. Ich denke, das war vielleicht ein erster Warnschuss für die Befürworter... Wir werden aber künftig nicht jeden LKW, es sollen ja 2400 pro Tag fahren im Endeffekt, die könne wir nicht schützen.“
Wie die letzte Woche zeigt, ist der Aktionsplan für die kommende Woche nur vorläufig. Überraschungen sind sicher.
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Bericht der Stuttgarter Nachrichten: http://www.stuttgarter-nach[…]49d2-b2bd-927595ae5702.html
Glaubt irgendjemand wirklich, dass da ein Polizist belangt wird?