Bahnprojekt Stuttgart 21 bringt eine Stadt in Bewegung
"Oben bleiben - Kopfbahnhof"
"Oben bleiben" skandieren die DemonstrantInnen gegen Stuttgart 21 am häufigsten. Damit meinen sie den Bahnhof, sie wollen den Hauptbahnhof als ebenerdigen Kopfbahnhof erhalten und die Verlegung in den Untergrund verhindern. "Oben bleiben" bedeutet für sie aber auch, den Kopf oben behalten, sich nicht ducken. Stuttgart kommt in Bewegung, die bedächtigen Schwaben wundern sich über sich selbst. Lauter fröhliche Gesichter auf der Demonstration am Samstagabend. Viele, sehr viele sind gekommen und sie sind laut. Mit der Ruhe in der Stadt ist es vorbei. Lokalpresse und Politik fürchten eine Spaltung der Stadt in Gegner und Befürworter von Stuttgart 21. Sie sind es nicht gewohnt, dass die BürgerInnen sich selbst einmischen.
Die AktivistInnen hatten für den Samstagabend 6.000 bis 7000 DemonstrantInnen erwartet, gekommen sind nach eigenen Zählungen über 16.000. Die Polizei berichtet von 12.000 TeilnehmerInnen. Die Stuttgarter Nachrichten berichten zunächst von einigen Hundert DemonstrantInnen, korrigieren sich dann aber, nur die Bildzeitung titelt weiter Hunderte bei Demonstration gegen Stuttgart 21.
Zur Demonstration am vergangenen Montag waren 6000 gekommen. Zu Montagsdemonstrationen treffen sich seit letzten Herbst Stuttgart21-GegenerInnen am Nordflügel des Hauptbahnhofs. Immer mehr Menschen gehen dort nach Feierabend vorbei. Die Demos haben Unterhaltungswert. Da werden – bis auf wenige Ausnahmen – keine langweiligen Politiker-Ansprachen abgespult. Die Kulturszene beteiligt sich mit Beiträgen unterschiedlichster Art. Musik ist immer dabei. Kabarettisten bringen die Menschen zum gemeinsamen Lachen, meist über die Obrigkeit. Nachdem Bundeswehrsoldaten öffentlich gelobt hatten, dem Vaterland treu zu dienen, gelobten die BürgerInnen, ihren Bahnhof zu verteidigen. Bei der letzten Montagsdemo führte eine kurze Demonstration zur der DB Projektbau GmbH. Eine Woche zuvor besetzten AktivistInnen friedlich – wie immer betont wird – den akut vom Abriss bedrohten Nordflügel des Hauptbahnhofs. Nicht nur die anwesenden MontagsdemonstrantInnen waren begeistert. Bei einer Webumfrage der Stuttgarter Zeitung befürworteten 80 Prozent der an der Umfrage teilnehmenden LeserInnen diese Aktion. Ein Kulturmittwoch ergänzt die Montagsdemonstrationen. Seit dem 17.Juli 2010 steht am Nordflügel des Bahnhofs rund um die Uhr eine Mahnwache. Protestiert wird auch in der Bahnhofshalle. Das folgende Video zeigte eine solche Aktion:
Schwabenstreich
Jeden Abend kommen Menschen zum Schwabenstreich zusammen. Das Prinzip ist: pünktlich um 19:00 Uhr dezentral eine Minute maximal Krach schlagen, womit auch immer. Dann Stille, ein bisschen reden, Infos austauschen NachbarInnen kennen lernen. Damit wurde der Widerstand in die Stadteile und Nachbarschaften getragen. Im Stuttgarter Vorort Weilimdorf wurde der Schwabenstreich ganz ordentlich angemeldet. "Damit es auch korrekt bei der amtlich genehmigten Minute bleibt, hat auch schon der anwesende Polizeibeamte die Zeit gestoppt und das Signal für Anfang und Ende gegeben, so dass sich die Demonstranten auf ihre Krachmach-Aktion konzentrieren konnten." (Stuttgarter Wochenblatt vom 5.8.2010) Los ging es am Mittwoch, 28.7.2010 auf dem Stuttgarter Marktplatz. Auf dem folgende Video erklären der Schauspieler Walter Sittler und der Regisseur Volker Lösch die Idee:
Und auf dem nächste Video das Ganze in Aktion:
Stadtblockade
Mit Demonstrationen und Lärm ist es aber nicht getan. Am 10.Juli feierten S21-GegnerInnen ein Protestival. Lieder gegen Stuttgart wurden gekürt, Krimis verfasst. Widerstandsbäume wurden gepflanzt. Bäume besetzen wurde geübt. Sitzblockaden werden trainiert. Auf einer Website der Parkschützer haben sich zur Stunde fast 19.000 Menschen registriert, täglich kommen neue dazu. Die registrierten ParkschützerInnen können sich für unterschiedliche Engagementstufen entscheiden: vom Protest gegen die Zerstörung des Stadtparks (Stufe "grün) über den Eintrag in eine Alarmliste (Stufe "orange") bis zur Bereitschaft, sich an Bäume zu ketten oder Baumaßnahmen durch Sitzstreiks zu blockieren (Stufe "rot"). Am Freitag, 30.Juli, lösten die ParkschützerInnen Alarm aus. Innerhalb kürzester Zeit kamen an die zweitausend StuttgarterInnen zum Bahnhof, um mit Sitzblockaden die Aufstellung der Absperrgitter zu behindern und anschließend bis spät in die Nacht Kreuzungen zu besetzen. Zum Leidwesen der Polizei beteiligte sich an diesen Verkehrsblockaden auch "Event-Publikum". Ein erster Vorgeschmack für weitere Stadtblockaden.
Seit der Errichtung des Bauzaunes werden täglich Demonstrationen, Sitzblockaden oder andere Aktionen durchgeführt. der Zaun selbst wurde dekoriert und zur Informationsfläche umgewandelt. Das Aktionsprogramm für die kommende Woche (9.-15.8.2010) sieht vor:
Mo, | 18 Uhr: | Montagsdemo, Nordflügel des Hbf |
Di, | 20 Uhr: | Vortrag, Zivilen Ungehorsam: Recht, Cafe NIL Schlossgarten |
Mi, | 18 Uhr: | Gebet für Stuttgart, Mittlerer Schlossgarten |
19 Uhr: | Kulturmittwoch, Nordflügel des Hbf | |
Do, | 19:30 Uhr: | Vortrag, Stuttgart 21 und die Folgen, Cafe NIL Schlossgarten |
Fr, | 20 Uhr: | Menschenkette um den Hauptbahnhof |
Sa, | 16-19 Uhr: | Probesitzblockade, Nordflügel |
täglich | 19 Uhr: | Schwabenstreich, überall, laut, 60 Sekunden |
Dazu kommt noch, was den Leuten sonst noch einfällt. Die StuttgarterInnen haben ihren Bahnhof im Blick. Bei den ersten sichtbaren Abrissmaßnahmen werden sie schnell und in großer Zahl zur Stelle sein. Aber der Widerstand ist nicht nur aktionistisch, mit dem Kopfbahnhof 21 liegt schon seit Jahren ein Gegenkonzept zu Stuttgart 21 vor. Dieses erhält den Bahnhof und ermöglicht einen kundenfreundlichen Taktfahrplan nach Schweizer Vorbild. Für einen Bürgerentscheid waren 67.000 Unterschriften gesammelt worden, mit formalistischen Vorwänden wurde die Abstimmung verhindert. Dafür wurde eine millionenschwere Werbekampagne gestartet, um den BürgerInnen Stuttgart 21 doch noch schmackhaft zu machen. Die platten Werbesprüche dieser Kampagne gewinnen durch Verfremdungseffekte, nicht nur auf Websites.
"Lügenpack"
Zum Tag der offenen Tür des
baden-württembergischen Landtags wurde die Angst vor Chaoten
geschürt. Dabei nutzten die BürgerInnen
diese Gelegenheit nur zu Diskussionen mit ihren Abgeordneten.
Der
Widerstandsbewegung bewegt sich zwar im
außerparlamentarischen Rahmen, bei den Landtagswahlen
müssen CDU, SPD und FDP aber wegen ihrer
Unterstützung des S21-Projektes mit Stimmenverlusten
rechnen. "Wahltag ist Zahltag" war der Slogan dazu auf der
Samstagsdemonstration. Nicht erst seit bekannt wurde, dass der
Stuttgarter
Finanzbürgermeister im Beirat der Baufirma Wolf und
Müller sitzt, ertönt auf allen Kundgebungen bei der
Erwähnung eines Stuttgart21-Politikers ein wütendes
"Lügenpack". Besonders unbeliebt sind der
neben Föll
der Oberbürgermeister Schuster (CDU) und der S21-Sprecher
Drexler (SPD). Der grünen Skandalfigur
Özdemir und
dem "Ich
bin kein Raffke" – Ernst von der Linken wird noch
applaudiert. Im Beirat von Wolff & Müller tummelt sich im
Übrigen
auch noch ein Herr Gerhard Wirth, Partner der
Kanzlei
Gleiss Lutz. Diese Kanzlei ist in Berlin durch ihr
umstrittenes "Persilschein-Gutachten"
zum S-Bahn-Desaster bekannt.
Aktionskonsens
Die meisten S21-GegnerInnen sind alles andere als systemkritisch, sie verstehen sich als engagierte BürgerInnen, die ihre demokratischen Rechte wahrnehmen. Sie wollen gewaltfrei bleiben, aber nicht unbedingt jedes Gesetz befolgen. Hier ihr Aktionskonsens:
Wir verhindern Stuttgart 21
Stuttgart 21 steht dem Willen und dem Interesse der Bevölkerung entgegen. Deshalb sehen wir uns in der Pflicht, alle gewaltfreien Mittel zu nutzen, um dieses Projekt zu stoppen. Gesetze und Vorschriften, die nur den reibungslosen Projektablauf schützen, werden wir nicht beachten. Durch Einschüchterungsversuche, mögliche Demonstrationsverbote und juristische Verfolgungen lassen wir uns nicht abschrecken. Bei unseren Aktionen des Zivilen Ungehorsams sind wir gewaltfrei und achten auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel. Unabhängig von Meinung und Funktion respektieren wir unser Gegenüber. Insbesondere ist die Polizei nicht unser Gegner. Bei polizeilichen Maßnahmen werden wir besonnen und ohne Gewalt handeln. Bei Einstellung des Bauvorhabens Stuttgart 21 werden wir unsere Blockade- und Behinderungsaktionen sofort beenden."
Zu den friedlichen Mitteln gehört selbstverständlich auch die Bahnhofsbesetzung. Der Stuttgarter Polizeipräsident Stumpf warnt schon im Interview:
Ziviler Ungehorsam ist kein harmloses Abenteuer, kein Räuber-und-Gendarm-Spiel. Ziviler Ungehorsam hat zur Folge, dass die Polizei einschreiten muss. ...
Wenn sich die Menschen an Bäume ketten, die gefällt werden sollen, dann kann das Nötigung sein - beispielsweise gegenüber beauftragten Firmen und deren Mitarbeitern, die gehindert werden, ihre Arbeit zu tun. Insofern ist ziviler Ungehorsam auch nicht gewaltfrei, wie immer behauptet wird. Es gibt durchaus auch eine Form der psychischen Gewalt, die in solchen Fällen von Demonstranten ausgeübt wird. Aufgabe der Polizei ist es deshalb, diese Menschen von den Bäumen abzuketten und wegzutragen, was für die Beamten allerdings sehr unangenehm ist.
Gewaltfantasien
Polizeiübergriffe werden schon propagandistisch vorbereitet. Von gewaltsamen Chaoten, Mord und Krieg ist die Rede. Hier einige Geschmacksproben:
Die Chaoten
schrecken auch vor Morddrohungen nicht zurück.
S21/SPD-Drexler
in Bild 9.62010
DB-Vorstandschef
Rüdiger Grube im
Visier von gewalttätigen „Stuttgart
21“-Gegnern: Aus Angst vor
Übergriffen auf den Bahnchef fährt die
baden-württembergische
Polizei Streife um sein Wohnhaus. Focus
31.7.2010
Der Krieg der Demonstranten gegen das umstrittenen Milliarden-Projekt
Stuttgart21 (u.a. Bahnhof unterirdisch). Jetzt kämpfen die
S21-Gegner
sogar mit modernen Spionage-Mitteln...
Bild
4.8.2010
Chaoten
wollen S21-Sprecher erdrosseln Bild
5.8.2010
Dann ist da noch die Angst vorm Schwarzen Block. Dass ein Redakteur eines schwäbischen Provinzblattes vergeblich nach einem "Schwarzen Block" Ausschau hält, mag ja nicht weiter verwunderlich sein. Dass aber die Moderatorin auf der Kundgebung vor der Samstagsdemonstration warnt, ihr sei zugetragen worden, ein Schwarzer Block sei gesichtet worden und die BürgerInnen mögen bitteschön auf der Hut sein, das ist schon mehr als bedenklich. Offensichtlich traut sie den Einflüsterungen der Polizei mehr als ihren eigenen Augen. "Unter die Stuttgart 21-Gegner hatten sich auch rund 50 Personen, die mutmaßlich dem linken Lager zuzurechnen sind, gemischt.", heißt es später in der Pressemeldung des Stuttgarter Polizeipräsidiums. Tatsächlich konnten auch einige wenige antikapitalistische Spruchbänder ausgemacht werden. Für die umstehenden BürgerInnen war aber klar: "Die gehören auch dazu". Das Ziel der Hetzkampagne, die Stuttgart21-GegnerInnen auseinander zu dividieren und einen aktiven Kern zu isolieren, verfängt bislang nicht.
Stuttgart 21 in der Defensive
Am Abriss des Nordflügels beteiligte Firmen wie Wolff & Müller und RAGGentfernen von ihrem Material und Gerät die Firmenschilder. Sie wollen offensichtlich nicht, dass ruchbar wird, dass sie sich an Stuttgart 21 beteiligen. Das scheint keine gute Werbung zu sein.
In der SPD mehren sich die Stimmen gegen Stuttgart 21. Der SPD-Landtagsfraktionschef Schmiedel bemüht sich seine Landtagsfraktion auf Linie zu halten. Der CDU-Oberbürgermeister Schuster jammert in einem Offenen Brief an die Stuttgart21-Gegner:
"Dieses Projekt bedeutet für mich viel Arbeit, viel Ärger und wenig Popularität."
Schuster erdreistet sich in seinem offenen Brief auch noch, Rosa Luxemburg gegen die Stuttgart21-Gegnerinnen ins Feld zu führen.. Er sieht durch die Stuttgart21-KritikerInnen seine Freiheit bedroht. Vermutlich hat er den Text von Rosa Luxemburg nie gelesen, denn der ganze Absatz lautet:
"Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der »Gerechtigkeit«, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die »Freiheit« zum Privilegium wird."
Das Zitat stammt aus Luxemburgs Schrift über die russische Revolution. Sie kritisierte damit Lenin und Trotzki. Rosa Luxemburgs Worte ließen sich doch eher gegen Schuster und das Stuttgart21-Projekt wenden, die seit Jahren die Stadt mit ihrer Stuttgart21-Propaganda überziehen. Aber wäre das nicht zu viel der Ehre, Herr Schuster als Spätzles-Bolschewik vom Nesenbach? Gegenstimmen von unten können die Herren offensichtlich kaum ertragen. Wenn sie die Spaltung der Stadt beklagen, dann doch eher die Spaltung zwischen unten und oben. Die Herrschaft fürchtet um ihre Legitimität. Die Menschen in der Stadt trauen ihnen immer weniger. Sie könnten noch manches schöne Geschäft vermasseln.
In Stuttgart hat etwas angefangen, dessen Ausgang noch nicht abzusehen ist. Die Stadt ist in Bewegung. Im Kampf gegen S21 kommen Theaterleute, SchriftstellerInnen, MusikerInnen, Wissenschaftler, GewerkschafterInnen, UmweltschützerInnen, DenkmalschützerInnen, Hausfrauen und Angehörige aller anderen Berufe zusammen. SchülerInnen sind genauso dabei wie RentnerInnen. Und es werden immer mehr. Und sie haben einen langen Atem. Und sie halten zusammen. Und die Sommerferien gehen auch einmal zu Ende.
Die vereidigten Minister schwören feierlich, Schaden vom Volk abzuwenden. Bei diesem Milliardengrab scheint dieser Eid ungültig zu sein.
Wir sind jetzt soweit, dass wir des Volkes Interesse selbst in die Hand nehmen müssen. Obwohl demokratisch gewählt, sind unsere Politiker nicht in der Lage,
unsere Anliegen zu vertreten. Ein paar wenige Profiteure des S 21 projekts wollen ihre wirtschaftlichen Vorteile abschöfpen, Geld abkassieren!
Sieht so verantwortungsbewußtes Handeln aus?