Gefühlte Realität
Pünktlich zum Frühling erhielten wir folgenden Realitätsbericht:
Draußen dämmert es, ich bin noch müde. Ich will nicht aufstehen. Ich möchte mir die Decke über den Kopf ziehen, wieder einschlafen und dann aufwachen und merken: ich habe das alles nur geträumt. War nur ein sehr schlechter Traum ...
Im Haus ist alles ruhig, mein Wecker hat niemanden außer mir aufgeweckt. Schnell aufstehen, duschen, Frühstück zubereiten. Warum fällt mir das alles so schwer, warum ist die schlechte Laune dabei mein ständiger Begleiter? Ich muss aufpassen, dass daraus nicht Schlimmeres entsteht. Wer will schon Depressionen haben???
Ich muss "nach vorn schaun", die "Ohren steif halten", sagen meine Nachbarn und Bekannte. Meine Familie sagt das Gott sei Dank nicht - sie weiß um die Bedeutungslosigkeit solcher Sprüche.
Meine Familie unterstützt mich im Kampf um unsere Arbeitsplätze und treibt mich nach vorn, wenn ich doch mal müde liegen bleiben will. Diese Unterstützung tut gut.
An Morgenden wie diesem stehe ich oft neben mir, alles erscheint mir noch immer irgendwie unwirklich.
Vor dem 1. Februar war dies mein ganz normaler Alltag - aufstehen, frühstücken, zur Arbeit fahren.
**Heute ist das nur noch die Normalität an einem Morgen in der Woche: an dem Tag, an dem ich für die Mahnwache gegen den Abbau von 74 Arbeitsplätzen eingeteilt bin.** Ich fahre dann zu meiner ehemaligen Arbeitsstätte, ich arbeite aber nicht mehr. Ich demonstriere. Ich friere dabei erbärmlich und stehe immer noch neben mir.
Den Frühling wünsche ich mir herbei. Schöne, helle, wärmende Sonnenstrahlen, die ganz bestimmt auch meiner Seele gut tun. Ich möchte wieder Freude und Wärme spüren können.
Meine ehemaligen Kolleginnen und Kollegen fahren an mir vorbei. Einige grüßen, andere starren angestrengt zur anderen Seite. Wie sehr ich sie alle um ihre relative Sicherheit beneide. Ob sie wissen, wie sich das anfühlt, "auf der anderen Seite des Zaunes"? Ob sie wissen, wie sich das anfühlt, morgens mit klammen Fingern gegen den eisigen Wind Kreuze zu befestigen und Schilder aufzustellen? Diesseits des Zauns sind wir mittlerweile eine starke Gemeinschaft.
Das ist wichtig, es hilft. Wir wissen, dass wir nur gemeinsam etwas erreichen können. Und dass wir einen langen Atem benötigen werden. Nicht alle werden durchhalten. Wieviel Kraft haben wir?
09:30 Uhr - Ende der Mahnwache für heute. Ich packe das Styroporstück ein, auf dem ich stand. Ein guter Kälteschutz. Mein Handy klingelt: es ist mein jüngstes Kind und fragt, wann ich nach Hause komme. Für meine Kinder ist dies fast schon Normalität.
**Ich will sie vor einer solchen Normalität bewahren - ich will wieder arbeiten. Nicht zuletzt für meine Kinder.**
Tschüß, bis zur nächsten Woche, liebe Kolleginnen und Kollegen, kommt alle wieder zu unserer nächsten Mahnwache - vielleicht wärmt dann ja die Sonne unsere Seelen.