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Streikauftakt nach Maß

by Jim Knopf posted on 22.02.2011 07:40 last modified 23.02.2011 20:26

Alle Räder stehen still, wenn dein kleiner Finger den Hebel umlegt. Der seit 6.00 Uhr laufende Warnstreik der Lokführer ist ein durchschlagender Erfolg, die S-Bahn in Berlin z.B. steht komplett.

6:35 Uhr, Berlin Ostkreuz. Das Thermometer zeigt - 10° an. Die Behelfsüberführung an der Großbaustelle wird von Fußgänger genutzt, die zur Bushaltestelle streben. An allen Bahnsteigen stehen S-Bahnzüge, nichts bewegt sich. Am Kopf des Bahnsteiges treffe ich ein Dutzend streikender Kollegen. Das Gespräch dreht sich um den vergeblichen Versuch eines Teamleiters Lokführer zum Streikbruch zu überreden. Ein Kameramann fragt, ob denn noch jemand von der GDL kommen wird. Nein, die Funktionäre haben sich hier noch nicht blicken lassen. Auf die Idee einfach die Kollegen zu interviewen kommt der Medienvertreter natürlich nicht.

Das Soliflugblatt und die überbrachten Grüße freuen die frierenden Kollegen. Einige Fahrgäste haben wohl nicht ganz so solidarisch reagiert, aber das sind die Ausnahmen. Die meisten suchen nach Alternativen und weichen auf Bus (und anderswo auf die U-Bahn) aus. Mein subjektiver Eindruck ist, dass die Leute es recht gelassen nehmen. Die Hetze von BZ und Politik gegen den Streik hat also nicht gezogen. Ausgesprochen positiv verlief schon die Verteilung des Soliflugis vor Schichtbeginn bei Gilette, einem Industriebetrieb im Süden Berlins. Schnell spricht sich herum, dass ein Streikflugi verteilt wird. Fast alle nehmen es, einige zustimmende Kommentare und aufmunternde Worte. Spinnen die Lokführer - nein, das war hier die eindeutige Meinung der Kolleg/innen, die zur Frühschicht eilen und von der Nachtschicht nach Hause streben.

Nachtrag 23.2.2011

Inzwischen steht fest, dass es durch Eigeninitiative der Kollegen gelungen ist, 90% der S-Bahn in Berlin still zu legen. An dem Warnstreik beteiligten sich auch Lokführer, die in der EVG organisert sind, sowie Unorganiserte. Diese rekordverdächtige Beteiligung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, wenn man die genauen Umstände berücksichtigt, unter denen sie zustande kam.

Da die Nachtschicht zwischen 18.00 abends und nächsten Morgen 7.00 Uhr liegt, die Frühschicht überlappend ab 3.00 Uhr beginnen kann, wussten viele Kollegen bei Arbeitsbeginn noch gar nichts über den Streik bzw. hatten keinerlei konkreten Informationen. Die organisatorisch überforderte GDL schaffte es erst gegen 4 Uhr die notwendigen Informationen über die Meldestellen zu verbreiten. Die betroffenen Kollegen machten aus der Not eine Tugend und griffen zur Selbsthilfe. Die gesamte Streiklogistik bei der S-Bahn Berlin wurde von den Lokführern in Eigenregie innerhalb von 2 Stunden auf die Beine gestellt, z.B. die im Hinblick auf mögliche Streikbrecher überaus wichtige Überlegung, wer wo seinen Zug abstellt.

Die Streikbeiligung ist doppelt positiv, weil bei der Bahn letztlich jeder Lokführer auf sich allein gestellt entscheiden muss, in den Streik zu treten und mit wohlmöglich unfreundlichen Reaktionen aufgebrachten Fahrgäste sowie dem psychischen Druck der Teamleiter umzugehen. Dies steht im Gegensatz zu Streiks in klassischen Industriebetreiben, wo sich in der Halle durch die Massenaktion der Arbeitsverweigerung sofort eine kollektive Haltung herstellen läßt, die schwankende Kollegen stabilisiert und Schutz vor Drohungen der Vorgesetzten bietet. Dazu kommt noch, dass viele Lokführer im Gegensatz zu dem Bahnmanagement den Dienst am Fahrgast sehr ernst nehmen und deshalb viele Lokführer Bedenken hatten, die Berufspendler am frühen Morgen in der Kälte stehen zu lassen.

Letztlich beweist die enorme Streikbeteiligung, wie explosiv die Stimmung der Kollegen angesichts unerträglichen Arbeitsbedingungen inzwischen ist.

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