Die Singenden Schäfer von Shpati
Anastas, ein Orthodoxer und Arif, ein Muslim, teilen zwischen März und Oktober ein Schäferleben, hoch oben in den Shirok-Bergen in der Region Shpati in Mittelalbanien. Ihre gemeinsame Herde aus Ziegen und Schafen weidet auf 1000 Metern über dem Ohrid See und nur 20 km vom Zentrum der albanischen Metallindustrie, Elbasan, entfernt. Anastas und Arif teilen aber nicht nur ihre Weiden miteinander sondern auch ihre Passion zu Singen. Während Arif gerne mit seinen beiden Brüdern singt, hat sich Anastas in der ganzen Region einen Ruf als Rhapsode, als Dichter und improvisierender Sänger erarbeitet. Wenn die Beiden zwischen dem hellen Klang der Ziegenglocken ihre Lieder anstimmen, sind religiöse Unterschiede schnell vergessen. Ihre Lieder sind dem harten Schäferleben gewidmet aber auch dem tiefen Schmerz, den die Massenemigration in ihren eigenen Familien verursacht hat.
Die Region Shpati ist eine alte Kulturregion an der Via Egnatia. Die ausgemalten Kirchen von Valesh und Shelcan, bis heute aktive Wassermühlen und Handarbeitstraditionen, sowie ein bewahrter Lokaldialekt zeugen davon. Zudem liegt Shpati südlich des Shkumbin Flusses, der die Grenze zwischen einstimmigem und mehrstimmigem Gesang bildet. Anders als ihre Landsleute, die Laben, im Süden Albaniens, sind die Tosken für ihre Virtuosität und Verzierungstechnik bekannt. Die weitverbreitetste Form des Singens ist das paarweise Singen dyshe, eine Art von musikalischem Frage-Antwort-Spiel. Gleichzeitig gibt es in Shpati aber auch einstimmige Lieder, die man “Kehle um Kehle” (goje me goje) nennt. Eine besondere Aufführungsmöglichkeit stellen die gesungenen Tänze dar, bei der Männer sich in Paaren zusammenfinden und gleichzeitig singen und tanzen. Auch die emotionalen Hochzeitslieder der Frauen werden im Rahmen der Konzerttournée zu hören sein.
Im Rahmen einer Konzerttournée im Juli 2012 wird die Musik der Bergregion Shpati erstmals außerhalb Albaniens einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Für alle beteiligten Sänger ist Gesang keine professionelle Aktivität, sondern eine Passion, die bis heute in ihrem Alltag eine wichtige Rolle einnimmt. Durch die magische Kraft ihres Gesangs schlagen die Sänger aus Shpati eine Brücke zwischen der Natur und ihrem eigenen harten Überlebenskampf. Dabei erreichen sie nicht selten einen tranceartigen Zustand von Extase (qejf). Ein Teil des vorgestellten Repertoires stammt vom Rhapsoden Anastas Karaj selbst, ein Fakt, der zeigt, dass die mündliche Überlieferungskette in Albanien weiterhin Quelle für musikalisches Schaffen ist. An einige Aufführungsorten wird neben der Gruppe auch der Film “Polyphonia” zu sehen sein, dessen Protagonisten Arif und Anastas sind, und der jüngst Aufführungen beim Norient Musikfilm Festival in Bern und auf dem World Film Festival in Tartu, Estland erlebte. (Eckehard Pistrick)